Sehen sie, es geht mir ja gar nicht darum, öffentlich die große blutbefleckte Moralkeule auszupacken, antihedonistische Langweiligkeiten von mir zu geben oder, wie es heutzutage ja schier überall und an jeder Straßenecke dieses Datenautobahngeflechtes geschieht, von Verzicht und Enthaltsamkeit zu predigen. Wir leben nicht mehr in den 1950ern, die Prüderie kann getrost und züchtig zu Hause bleiben, Tagesschau schauen und um 21:30 Uhr ins Bett gehen, oder Rechtschreibfehler im Telefonbuch anstreichen.
Nein, in der Tat, ich möchte ihnen rein gar nichts über gesunde Lebensführung, über die Vorteile von fair gehandeltem Kaffee, über Rücksicht, über wahre Liebe und Treue, über Zuverlässigkeit und Pflichtgefühl, über allgemeinen Werteverfall, über die heutige Jugend, über Atomkraft, über Veganismus oder gar die Bild-Zeitung erzählen. Sie sehen, sie können diesen Text bedenkenlos lesen und genießen, ohne Gefahr zu laufen, belehrt zu werden, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, oder den Drang zu verspüren, ihre arme alte Mutter mal wieder anzurufen.
„Was ist denn dann der Sinn dieses Textes?“, werden sie sich jetzt zu Recht fragen, während ihnen innerlich und gut versteckt hinter einer interessiert-anbiedernden Mimikfassade ein tonnenschwerer Stein vom Herzen fällt, und – dies sei versichert – sie werden auf die Antwort noch warten müssen.
Unternehmen wir einen Exkurs in die Geschichte des Hedonismus, zurück zu stählern durchtrainierten Griechen, die, in der Abendsonne schwitzend, tief versunken in ihre Gedanken nackt auf einem Stein sitzen, die rechte Faust angestrengt gegen die Stirn gepresst, die Augen fest verschlossen, sich nichts hingebend als der reinen Vernunft, Ethik und Moral – natürlich in einem metaphysischen Sinne. Der Eine reimt gerade, unter Aufbietung all seiner mentalen sowie geistigen und psychischen Kraft eine epische Dichtung von immenser Sprachgewalt, die er kurzerhand noch während des Schaffensprozesses auswendig lernt, um Steintafeln oder Papier zu sparen . Ein Anderer, ein Athlet, reibt seinen Körper gerade mit Öl ein, wirft einen letzten Diskus durch das Stadion um im Anschluss gleich die 42,3 Kilometer nach Olympia zu sprinten, wo er noch eine Verabredung zum Ringen mit seinem Lehrer im örtlichen Gymnasion hat. Im Tempel wird den Göttern gehuldigt und ein aufmüpfiger Makedonier wird gescholten, weil er seinen Lehrer, einen angesehenen Athener, öffentlich diffamiert hat. Dass die Erde eine Scheibe ist, das weiß hier jeder, deshalb ist es ja auch so einfach sie zu vermessen, denn die Summe der Quadrate der Katheten ist logischerweise gleich groß, wie das Quadrat der Hypotenuse . Der so eben gescholtene Makedonier geht nach Hause und schreibt weiter an seinem neuen Buch, in dem er kurzerhand das Denksystem der nächsten zwei- bis zwölftausend Jahre begründen wird, natürlich wieder einmal unter fast schmerzhaft konzentrierten Nachdenkenkungsaktivitäten. Die ganze Polis scheint zu denken, zu dichten, zu kontemplieren, zu schaffen, arbeiten, schuften, sich zu ertüchtigen, zu singen, zu tanzen - und das mit einer Ernsthaftigkeit, dass es dem kleinen, dicken Männchen dort drüben im Wirtshaus fast angst und bange werden könnte, wäre er nicht gerade so vergnügt und fröhlich. Dieser kleine, dicke Mann, der mit der rechten Hand gerade den Schoß seiner bildhübschen Sklavin liebkost und mit der linken einen saftigen Bratenspieß in Richtung Mund bugsiert – vor ihm steht ein Krug Wein auf einer vollgeladen Tafel mit den erlesensten Speisen – dieser kleine dicke Mann also heißt Epikur.
Und hier wären wir auch schon am Ende unseres kleinen Exkurses.
„Wie bitte?“, werden sie jetzt sagen, die Stirn leicht gerunzelt, „Wie bitte, das soll alles gewesen sein?“
Und ich erwidere gelassen, ja, werter Leser, das war’s, mehr kommt nicht von den alten Griechen, den Rest werde ich in der schnöden Gegenwart entwerfen, beziehungsweise in der schnöden textimmanenten Gegenwart.
Also, was unterscheidet unseren lieben Epikur von den anderen genannten Griechen, die wie besessen durch Athen wandeln, diskutieren, politisieren? Die Antwort ist einfach: Epikur wird in diesem Wirtshaus die Nacht seines Lebens verbringen und am Ende – und das ist der Witz daran – die Zeche prellen.
Ein Leben für den Augenblick, und damit tatsächlich für die Ewigkeit - genau an dem Punkt, an dem sich Vergangenheit und Zukunft treffen.
//nager